Sabine Gruber


Vom Ende der ARS DIVINA – ein Besuch beim letzten Schriftsetzer Venedigs


Es gibt Stunden in Venedig, in denen man glücklich ist, egal mit welcher persönlichen Last oder Trauer man in die Stadt gekommen ist. Vielleicht liegt es daran, daß der Zufall hier ein leichteres Spiel hat, weil die Schönheit dieses Ortes keine Distanz kennt. Von ähnlichen Augenblicken des Glücks berichtet auch Joseph Brodsky in seinem Venedig-Buch „Ufer der Verlorenen“.
Vor wenigen Wochen – ich war gerade erst angekommen – begann es heftig zu schneien. Nach einem längeren Spaziergang landete ich auf der Piazzetta San Marco und blickte, den Dogenpalast im Rücken, zu den römisch anmutenden Arkaden hoch, hinter denen wertvollste Handschriften lagern. Von diesen Aufzeichnungen, dachte ich in jenem Augenblick, hat alles seinen Ausgang genommen. Und während ich weiterging, erschien mir die seltene Schneedecke plötzlich wie bedrucktes Papier, auf dem man die Stadt, dieses unvergleichliche Kunstwerk, holzschnittartig abgezogen hatte.
Schon 1988, als ich aus Berufsgründen in die Lagunenstadt übersiedelt war, mußte der Zufall seine Hand im Spiel gehabt haben, denn meine erste, vorübergehende Adresse auf dem Lido lautete Via A. Manuzio, benannt nach Aldus Manutius, einem der bedeutendsten Buchdrucker und Verleger der Renaissance.
Der studierte Philosoph und erfolgreiche Lehrer lieferte dem europäischen Humanismus die berühmten 130 Aldinen, darunter die erste gedruckte griechische Gesamtausgabe des Aristoteles.
Aldus Manutius kam im Jahr 1488 mit einer klaren verlegerischen Absicht in die Lagunenstadt: die antiken Klassiker zu drucken, die überall in Konstantinopel verstreut waren. Er wußte, daß der griechische Kardinal Bessarion 1468 der Republik Venedig die größte Sammlung griechischer und lateinischer Handschriften vermacht hatte, die es im Westen gab; noch heute bildet sie den Grundstock für eine der angesehensten Bibliotheken Italiens, die Biblioteca Nazionale Marciana. Außerdem war die Stadt von zahlreichen Gelehrten bevölkert, die ihn bei der Herausgabe der Bücher unterstützen konnten.
Bei seiner Ankunft in Venedig war Manutius fast vierzig Jahre alt, ein angesehener Dozent zwar, der jedoch den Beruf des Schriftsetzers und Druckers erst erlernen mußte. Die wichtigsten Kenntnisse und Handfertigkeiten eignete er sich in der Werkstatt des bereits zu Wohlstand gelangten Druckers Andrea Torresani da Asola an; wenig später war er nicht nur dessen Teilhaber, sondern auch sein Schwiegersohn.
Schon ab 1470 waren massenhaft Buchdrucker und Verleger in die Lagune geströmt und hatten ihre eigenen Lettern und Pressen mitgebracht. Doch geriet schon Anfang der 70er Jahre der Absatz der Drucke ins Stocken, weil die Zahl der finanzkräftigen und interessierten Abnehmer gering war. Unter dem großen Konkurrenzdruck litt vor allem die Qualität.
Manutius suchte nach neuen Schriftcharakteren, perfektionierte den Gebrauch von leichten Druckerpressen und achtete sowohl auf die Qualität der Tinte als auch auf die des Papiers.
Als Manutius um die Jahrhundertwende als Verleger tätig wurde, fand er eine ausgereifte Buchdruckerkunst vor, die sich in technologischer Hinsicht in den folgenden drei Jahrhunderten kaum weiterentwickelte. Die Anordnung der Schriftzeichen im Setzkasten ist sogar bis zur Ablösung des Schriftsetzerberufes durch den Computer unverändert geblieben.
1500 war Venedig zum Zentrum des europäischen Buchdrucks geworden; man zählte etwa zweihundert in- und ausländische Buchdrucker in der Stadt (etwa genauso viele wie in ganz Deutschland) – darunter waren nicht wenige große Namen. Selbst Paris und Lyon zusammen kamen nicht an diese Zahl heran. Innerhalb eines knappen Jahrzehnts wurden erstmals Werke von Cicero, Tacitus, Plinius, Boccaccio und Dante auf den Markt gebracht.
Die Gründe für die Blüte der venezianischen Buchdruckerkunst sind vielfältig: das verkehrsgünstig gelegene Venedig verfügte über ausgedehnte Handelsbeziehungen, sowie über eine das Gewerbe begünstigende Gesetzgebung; außerdem war das kulturelle Niveau der Stadt wohl auch durch die Nähe zur berühmten Universität von Padua sehr hoch.
Manutius druckte alle wichtigen griechischen und lateinischen Klassiker sowie zahlreiche Wörterbücher der antiken Sprachen, und er entwickelte 1501 zusammen mit dem Bologneser Stempelschneider Francesco Griffo die zierliche italienische Kursivschrift. Doch nicht nur mit dieser neuen Kursivtype machte er Furore, sondern auch mit dem überaus handlichen Oktav-Format, das als Prototyp der Taschenbuchausgabe gilt. Seine textkritischen Editionen waren vergleichsweise preiswert und hatten den Vorteil, daß man sie überallhin mitnehmen konnte. Damit traf er nicht nur den ästhetischen Geschmack der Bildungselite, die er im Auge hatte, er konnte mit den relativ hohen Auflagen von 3000 Exemplaren in gewisser Weise mitbestimmen, was die Intellektuellen seiner Zeit lesen würden.
Das Papier, das er leicht anfeuchtete, damit die Farbe optimal absorbiert werden konnte, war bereits so dünn, daß die 160-Seiten-Ausgabe des Euripides in der Übersetzung von Erasmus von Rotterdam nicht dicker als einen Zentimeter war. Im Unterschied zu heute wurden Buchdrucker, die schlechtes Papier verwendeten, damals per Dekret bestraft, weil sie laut Stadtregierung nicht nur dem Leser, sondern allgemein dem Ansehen der Republik Schaden zufügten.
Im Hause Manutius` verkehrten berühmte Zeitgenossen; 1508 wohnte Erasmus von Rotterdam mehrere Monate bei ihm, um die „Adagia“, eine Sammlung lateinischer Sprüche, zu edieren, die er durch griechische Weisheiten zu ergänzen trachtete.
Der Erfolg des großen Verlegers und Buchdruckers war jedoch von kurzer Dauer, da ihn die Privilegien der Republik Venedig nur auf venezianischem Boden vor Raubdrucken schützen konnten. Manutius galt als knauserig und überaus pedantisch; die Feinde im eigenen Haus scheuten sich nicht, druckfertige Texte an die Konkurrenz zu verkaufen. Nach seinem frühen Tod im Jahr 1515 führte sein Sohn Paolo die Offizin, später übernahm dieser die Päpstliche Buchdruckerei im Vatikan.

Es hatte aufgehört zu schneien; die Gemeindearbeiter waren damit beschäftigt, auf den Brücken Salz zu streuen. An manchen Stellen hatten sich bereits dunkle Flecken in die Schneedecke gefressen. Ich ließ die Fondamente Nuove hinter mir und bog in die Calle del fumo ab. Nach dem kurzen Intermezzo auf dem Lido war ich 1989 hierhergezogen - und wieder hatte mich der Zufall in die Nähe meiner Wurzeln gebracht: als Tochter eines Schriftsetzers und aus der Dynastie von Buchbindern und Buchdruckern stammend, lief ich, die Haustür hinter mir zuziehend, direkt auf den letzten venezianischen stampatore zu, auf die kleine Werkstatt des Gianni Basso. Erst nach Monaten, in denen ich meist nach Geschäftsschluß, vom tipografo unbemerkt, die zahlreichen Exlibris und Visitenkarten begutachtet hatte, die im Fenster ausgestellt waren, überwand ich meine Scheu und betrat die Offizin.
Das Inventar – die Setzkästen, alten Pressen, Tintenwalzen und Papiersortierer – war vor allem eines: ein Synonym für Kindheit. In der fremden Stadt hatte ich einen vertrauten Ort gefunden, den ich im Laufe der Jahre immer wieder aufgesucht habe.
Gianni Basso, ein gebürtiger Venezianer und Sohn eines Rudermeisters, hatte in den 68er Jahren anderes im Kopf, als die Schule abzuschließen. Der Großvater, der als Fährmann zwischen dem Lido und der Klosterinsel San Lazzaro hin und her gependelt war, nutzte seinen Kontakt zu den Armeniermönchen und brachte seinen Enkel in deren Druckerei unter.
Fünfzehn Jahre lang blieb Gianni Basso auf der ehemaligen Quarantäneinsel für Leprakranke, die Anfang des 18. Jahrhunderts durch den Mechitaristen-Orden zu einer Hochburg armenischer Gelehrsamkeit und Religion avancierte; am Ende war er gelernter Schriftsetzer und Buchdrucker, jedoch ohne berufliche Zukunft, da die Druckereien auf Computer und Laserdruck umzustellen begannen.
Er verließ die Klosterinsel und kaufte im Norden Venedigs, in Sichtweite zur Friedhofsinsel, inmitten unter Steinmetzen und Blumenläden, eine kleine Offizin. Sein Vorgänger hatte sich mehr schlecht als recht mit der Produktion von Parte-Zetteln über Wasser halten können.
Basso beschaffte sich die alten Pressen, Druckstöcke und Typen bei aufgelassenen Druckereien; die Setzkästen bekam er aus dem Armenierkloster, dessen stamperia kurz darauf ebenfalls schließen mußte.

Das erste Jahr, erzählt er, sei schwer gewesen. „Es gab nur zwei Möglichkeiten: mithalten oder zurück zu den Ursprüngen.“ Als Ein-Mann-Betrieb setzte er auf die Qualität des alten Handwerks und trat in die Spuren Manutius`, dessen Druckersignet einem Exlibris als Vorlage dient; es zeigt einen Delphin, der sich um einen Anker windet. „Festina lente“, eile mit Weile, war Manutius` Devise. Sie gilt auch für Gianni Basso, der sich nicht aus der Ruhe bringen läßt. Elektronische Geräte sucht man bei ihm vergebens. Wer eine Bestellung aufzugeben wünscht, muß selbst vorbeikommen. „Ich will die Menschen sehen, denn ich arbeite nicht für jeden.“
Gianni Basso hat sich auf alte Lithographien spezialisiert, bedruckt die diversesten Büttenpapiersorten und mischt die Farben selbst. Bücher vermag er in der 35 qm Offizin freilich keine zu produzieren, dafür sammelt er Abbildungen von Ornamenten, Signets und Wappen, und läßt davon in einer Werkstatt in Treviso die entsprechenden Clichés produzieren.
Spricht er von seinen Kunden, gerät er ins Schwärmen. „Es sind gebildete Leute“, sagt er, „internationale Kundschaft, Intellektuelle, Künstler, ja sogar Nobelpreisträger. Von den Venezianern könnte ich nicht leben.“
Da die Werkstatt mit ihren musealen Geräten nicht den gesetzlichen Bestimmungen entspricht, darf Basso keinen Lehrling beschäftigen; der „Gutenberg di Venezia“ - wie er sich gerne nennt – ist der letzte in einer langen Tradition venezianischer Buchdrucker. Seine Söhne sind zwar humanistisch gebildet, haben aber anderes im Sinn.
Als ich mich verabschiede, schenkt er mir ein Exlibris. Es ist von Joseph Brodsky. „Er hat es selbst gezeichnet“, sagt Gianni Basso.