Sabine Gruber

Schnee


Am Morgen hat das Radio Temperaturen um den Gefrierpunkt gemeldet. Ich weiß nicht, ob er diese Nachricht wahrgenommen hat. Ich bin in der Küche gestanden, habe seiner Katze zu fressen gegeben. Sie rührt das Futter nicht an. Wenn ich sie rufe, kauert sie sich geduckt hin, die Vorderpfoten fest unter die Brust gezogen, als wolle sie jeden Moment aufspringen.
Die Tür zu seinem Zimmer steht seit ein paar Tagen offen. Er liegt ruhig in seinem Bett. Ich gehe auf und ab, schaue aus dem Fenster. Als wir das letzte Mal zusammen in Rom waren, wollte er im Katzenasyl am Largo Torre Argentina eine Katze adoptieren; auf der Nummer, die ich für ihn angerufen habe, war niemand zu erreichen gewesen. Jemand hat ihm erzählt, daß Anna Magnani dort ihre Lieblingskatzen hatte. Sie soll die Tiere bis zu ihrem Tod gefüttert haben.
Ich höre ihn atmen; es klingt, als bliese jemand mit einem Strohhalm Luft in ein Wasserglas. Eine Weile stehe ich neben seinem Bett, wechsle die Einlage. Die Katze ist mir gefolgt, sie schaut mich an. Im Dämmerlicht des Zimmers sieht ihr Fell grau aus.
„Vielleicht schneit es heute,“ sage ich zu ihm und streiche über seine Stirn, dann begebe ich mich wieder in die Küche, mach` mir einen Tee.
In einer Stunde kommt die Ärztin vorbei, sie versorgt ihn zweimal am Tag mit Infusionen. Ich denke, daß er keine Schmerzen hat. Gestern nacht war er kurz bei sich, er hat nach der Katze gefragt, aber das Wort Katze war ihm nicht mehr eingefallen.
Der Himmel sieht jetzt aus wie eine einzige Wolke. Als ich zum Gartenhäuschen hinüberschaue, bemerke ich vor dem dunklen Hintergrund die ersten Schneeflocken.
Ich bücke mich, suche nach der Katze; sie liegt in seinem Zimmer auf dem Boden. Heute morgen hat sie an meiner Tür gekratzt und gemiaut, bis ich aufgestanden bin, obwohl sie nicht frißt. Ich bin immer wieder erstaunt, wie sie geht, als würde sie auf einer imaginären Linie laufen. Sie setzt die Vorderpfoten exakt voreinander, ebenso die Hinterpfoten, wie eine Seiltänzerin. Ich versuche, sie zu locken, aber sie verläßt sein Zimmer nicht.
Das Autodach ist schon weiß. Früher wäre er bei so einem Wetter mit einem schwarzen Tablett nach draußen gegangen, um ein paar Schneeflocken einzufangen und sie dann im unbeheizten Gartenhäuschen unter dem Mikroskop zu betrachten. Es mußte immer sehr schnell gehen, weil eine Flocke nur wenige Minuten überlebt; sie verdunstet auch bei Minusgraden. War nichts Interessantes dabei, wiederholte er den Vorgang. Meist konnte er schon mit bloßem Auge erkennen, ob es sich lohnte, die Kristalle unter die Lupe zu nehmen. Die Katze wartete indes auf dem Fenstersims auf seine Rückkehr. Wenn er sich dann in die Stube setzte, um ein Kristall aus dem Kopf nachzuzeichnen, legte sich die Katze in seinen Schoß. Er behauptete, daß das warme Knäuel seine Hand beruhigte.
Wann er mit dem Zeichnen angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Inzwischen gibt es um die dreihundert Blätter, die er in einer eigenen Lade im Schlafzimmer aufbewahrt. Es sind Sterne mit baumartig verzweigten Armen, hexagonale Plättchen, Nadeln, Prismen – eine große Formenvielfalt, und dennoch ist die Zahl der von ihm dokumentierten Kristalle geradezu lächerlich, wie er mir immer wieder erklärt hat. Man schätzt den Variantenreichtum der Schneekristalle auf die unvorstellbare Zahl eins mit fünf Millionen Nullen, erst dann ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß sich die Struktur eines Kristalls wiederholt.
Er atmet nicht mehr so laut wie vorhin. Die Katze hat sich zu ihm aufs Bett gelegt. Ich weiß nicht, ob das gut ist. Wenn sie sich bewegt, könnte sie seine Infusionsnadel herausreißen. Sie schmiegt sich an seinen Arm. Ich setze mich an die andere Seite des Bettes, greife nach seiner Hand, behalte die Katze im Auge. Es ist still, weil die Vögel draußen verschwunden sind, sie mögen das Wetter nicht. Schneekristalle, hat er gesagt, schöpften ihre Individualität aus ihrer eigenen Geschichte, sie seien ein wenig wie wir Menschen.
Ich versuche mit der anderen Hand die Katze zu streicheln, aber sie wird unruhig, hebt den Kopf. Als ich aufstehen will, miaut sie, sodaß ich mich wieder hinsetze. Bald wird die Ärztin kommen. Schneeflocken sind nicht gefrorene Regentropfen, sie kristallisieren direkt aus der Luftfeuchtigkeit aus, das weiß ich auch von ihm, und sie benötigen Kristallationskeime wie Staubkörner.
Ich blicke zum Fenster; der Holzrahmen wirkt dunkler, wenn draußen alles hell ist. Es kommt mir so vor, als würden die Intervalle zwischen seinen Atemzügen länger werden. Warum denke ich auch so viel an den Schnee. Die Katze bewegt sich nicht.
„Es schneit,“ sage ich zu ihm und küsse ihn auf der Wange. Erleichtert stelle ich fest, daß er wieder Luft holt. Ich nehme seine Finger einzeln in die Hand, massiere sie. Die vielen Flocken da draußen. Die Bäume sind schon bedeckt.
Ich beobachte seinen Brustkorb. Er rührt sich nicht. Erst nach einer Weile hebt er sich, senkt sich, wie das Fell der Katze.
„Es schneit,“ sage ich zu ihm, „es schneit die ganze Zeit.“
Ich warte lange, sehr lange.