Sabine Gruber
Der Traum vom weißen Blatt
Rede zur Verleihung des Anton Wildgans-Preises
In einem unvergeßlichen Albtraum zog ich bei einer Lesung mein aus losen Blättern
zusammengestelltes Manuskript aus der Tasche, um daraus vorzutragen. Doch in dem
Moment, in dem ich meinen Blick auf das Papier wandte und Luft holte, um den Vortrag
zu beginnen, mußte ich feststellen, daß die erste Seite keinen einzigen Satz enthielt, daß
sie weiß war, daß auch die zweite, dritte -, ja alle weiteren Seiten keinen Text aufwiesen.
Nach dem ersten Schrecken, - ich räusperte mich, tat, als suchte ich nach der richtigen
Stimmlage für meinen Vortrag – gewann ich mein Selbstvertrauen zurück. Denn ich war
augenblicklich überzeugt, die Blätter verkehrtherum in die Mappe gelegt zu haben. Mit
einem zaghaften Lächeln, das die Zuhörer und Zuhörerinnen beruhigen sollte - mich am
meisten -, drehte ich den dünnen Stapel Papier einfach um.
Das Deckblatt war weiß – gut, es handelte sich eben um ein
Deckblatt -, aber darunter –
ich war mir ganz sicher – lagen nach Themen und nach dem erwartbaren Grad der
Publikumsaufmerksamkeit geordnet zuerst die komplexeren Erzählungen und Gedichte,
schließlich für den zweiten Teil der Lesung die leichter rezipierbaren. Ich wischte das
Deckblatt mit einer fahrigen Handbewegung vom Stapel, doch auch die nächsten Seiten
waren weiß. Also nahm ich meinen Mut zusammen, legte die durchgesehenen Blätter zur
Seite und begann bei Blatt sieben oder acht zu lesen.
Ich las, was da Weiß auf Weiß zu lesen war, las, was zwischen den Zeilen stand, denn es
gab nur Zwischenzeilen mit viel Rand, las und vergaß, während ich las, daß es hier gar
nichts zu lesen gab. Ich las all das, was sich immer schon meinem Darstellungsvermögen
entzogen hatte, was sich nicht sagen ließ.
Ich las, ohne meine Lippen zu bewegen. Meine Augen vergrößerten sich und – ich glaube
mich zu erinnern – auch die Augen der Menschen
im Saal.
Hier hörte der Albtraum auf. Die aufgerissenen Augen der Zuhörerinnen und Zuhörer, die
bis zum jetzigen Zeitpunkt nichts vernommen hatten und deren immer heftigeres
Kopfschütteln hatten mich dermaßen irritiert, daß ich aufgeschreckt bin. Ich konnte,
obwohl ich mir im Halbschlaf meines albträumenden Zustands bewußt war, den
Traumverlauf nicht mehr steuern. So blieb der Albtraum der Traum einer nicht haltbaren
Rede. Denn die freie Rede hätte dort beginnen müssen, wo mir der Text abhanden
gekommen war. Was für eine Perfidie der Lakonie, dachte ich am selben Morgen beim
Frühstück. Meine Literatur hatte sich im Traum zu einem Räuspern verknappt.
Entzöge man mir jetzt, hier vor Ihnen, mein Blatt, man entzöge mir den Grund. Das freie
Sprechen ist mir noch immer – ich übertreibe nicht – ein Albtraum. Es macht mich
fassungslos. Nicht, daß ich es nicht könnte, aber das Stammeln, das Sich-Verhaspeln,
Stottern und Stocken, das ich zuhause vor meinem Notizheft oder vor meinem Bildschirm
bereits in aller Abgeschiedenheit und für niemanden - außer für mich selbst hörbar -
schreibend überwunden habe, möchte ich nicht öffentlich wiederholen. Ich würde mich
hier vor Ihnen – läge nichts Geschriebenes vor - mit einem „Danke schön“ verbeugen
und verabschieden.
Ich gehöre zu jenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die schreiben, weil sie nicht
reden können oder weil sie glauben, nicht reden zu können.
Mein Schreiben setzt Schweigen voraus, Schweigen und wenn möglich: Stille. Diese
verstärkt das Hineinhören in das Schweigen, welches laut sein kann und leise, einem
inneren Trommeln gleich wie Dauerregen, oder einem unregelmäßigen Klopfen als fielen
nur einzelne Tropfen; vielleicht aber fällt nichts, wirbelt nur Buchstabenstaub durch die
Luft, der in den Augen brennt.
Man kann sich, wenn man mit den geeigneten Menschen schweigt, alles sagen. Aber wer
sind schon die geeigneten. Sie zu finden, bedeutete, ohne Suche zu leben und ohne
Versuchung. Schreiben ist beides: Suche und Versuchung und niemals richtig, daher ein
lebenslänglicher Versuch.
Ostern 2008 war ich zum ersten Mal in Neapel und stieß im Museum von Capodimonte
auf ein Bild von Colantonio mit dem Titel „San Girolamo nello studio“. Das Ölgemälde
zeigt Hieronymus in seinem Studierzimmer; der Gelehrte hält die Pranke eines Löwen in
Händen und versucht mit einem schwarzen Federstiel den Ballen der linken Vorderpfote
von einem Dorn zu befreien. Die beiden werden umrahmt von einem hölzernen
Bücherregal, auf dem Folianten, Papierrollen und diverse Schriften abgelegt sind. Auf
dem Pult liegt ein aufgeschlagenes Buch, daneben, auf einer Ablage, der scharlachrote
Kardinalshut, der für so viele Hieronymus-Darstellungen typisch ist.
Der Hl. Hieronymus ist der Schutzpatron der Übersetzer, er sitzt in einem
abgeschlossenen Raum, der geräuschlos erscheint, weil er mit Ausnahme des Heiligen
und des stillhaltenden Löwen niemanden beherbergt, keinen Ausblick ins Freie vermittelt.
In diesem Raum aber, der einer Zelle gleicht, einem Gehäuse, in dem alles ausgesperrt
ist, weil sich der Philologe, um sich in seine Schriften vertiefen zu können, die
Wirklichkeit vom Leibe halten muß, ist dennoch die Welt versammelt, ohne daß auch nur
etwas von ihr anwesend sein müßte. Diese Welt ist eingegangen in die Reden Ciceros und
in die Schriften Platos, in unzählige andere Werke, von denen Hieronymus umgeben ist
und die zu übersetzen sein Leben bedeutet. Vielleicht steht der gezähmte Löwe für die
gezügelte Leidenschaftlichkeit des Gelehrten, womöglich verweist der König der Tiere auf
Hieronymus’ früheren Aufenthalt in der Wüste oder er achtet als Wächter darauf, daß
niemand in das Studierzimmer eindringt und keiner stört. Man könnte - auf die
Gegenwart bezogen - auch sagen: er sorgt in einer Welt der Reizüberflutung für
Reizminderung.
Aus Dankbarkeit darüber, daß ihm der schmerzhafte Dorn aus der Pfote entfernt wird,
bleibt der Löwe aber – so die Legende - der freundliche Begleiter des Gelehrten.
Die Faszination, die von diesem und ähnlichen Renaissance-Bildern ausgeht, liegt sowohl
in dem Gefühl der Behaglichkeit, die der Raum, den man auch als einen mentalen deuten
könnte, vermittelt, eine Behaglichkeit, die sich der Distanz zur Außenwelt verdankt, als
auch in der Anwesenheit von etwas Unsichtbarem, das in jeder Hinsicht bildbestimmend
ist: die Unberechenbarkeit des Löwen, der im Zentrum des Gemäldes steht.
Was würde passieren, wenn Hieronymus nicht imstande wäre, den Dorn zu entfernen?
Ich kann als Schriftstellerin auf die Welt nur dann sprachlich zugreifen, wenn ich sie beim
Schreiben aussperre. Und ich muß aushalten, daß sie in einem Raum wie dem
Hieronymus’schen Studierzimmer unaufhörlich meinem Schweigen antwortet, daß sie
unberechenbar und unstillbar zurückschweigt, rückfragt. Nur in der Abgeschiedenheit
kann ich die Aufmerksamkeit erhöhen und jene Konzentration finden, die es im Glücksfall
erlaubt, mit dem Federstiel den Dorn zu ziehen, ohne die Pranke zu verletzen.
Der Albtraum vom weißen Blatt ist aber auch ein Traum, denn das weiße Blatt ist nur für
jene eintönig, die noch immer auf meine Rede warten.
Aus meinem weißen Blatt leuchtet das Weizenmehl, wachsen Weißbuchen und
Lilienblüten, es ist einmal ein betretbares Schneefeld, ein anderes Mal verwandelt es sich
in einen Schwarm von Weißfischen, die mir davonschwimmen. Mein Blatt schafft
Luftigkeit und Lust, das Blitzhafte, Ungeordnete, Nebulöse einzufangen, das
Kristallisierte, Sedimentierte im leeren Raum zu verteilen, und es ist gleichzeitig die
Weißglut in den Augen des Löwen, dessen Pranke ungeduldig darauf wartet, vom Dorn
befreit zu werden.
Es ist der Ort des Weißbleibens und damit des Scheiterns ebenso wie der Ort, an dem die
Welt ins Gehäuse eindringt, unsicher, suchend übersetzt ans Wörterufer.
Es ist der Ort, an dem das Wünschen überwiegt, der Wille, den Dorn zu erkennen, ihn zu
erfinden, wo er nicht auffindbar ist.
Mein Blatt ist das Lichtweiß, das mir die Angst vor dem Dunkel nimmt, Übungsfeld für die
Sprache, die den Mund nicht verläßt, weil sie für die Augen bestimmt ist.
Mein Blatt ist der Ort, wo etwas werden kann, so lange ich atme.
Denn Schreiben ist auch eine Art zu atmen.
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